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Lange erwartete Messung des exotischen Betazerfalls in Thallium hilft bei Bestimmung der Zeitskala der Sonnenentstehung

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/ via Max-Planck-Institut für Kernphysik Heidelberg /

Einer internationalen Zusammenarbeit von Wissenschaftler*innen ist es am GSI Helmholtzzentrum für Schwerionenforschung, Darmstadt, gelungen, den Beta-Zerfall von vollständig ionisierten Thallium-Ionen (205Tl81+) im gebundenen Zustand zu messen. Das Experiment, das am Experimentierspeicherring (ESR) von GSI/FAIR durchgeführt und in Zusammenarbeit mit TRIUMF, Vancouver, analysiert wurde, ergab, dass die Halbwertszeit von 205Tl81+ 291 Tage beträgt. Sie ist damit doppelt so lang ist wie theoretisch erwartet. Die Messung hat tiefgreifende Auswirkungen auf die Produktion von radioaktivem Blei (205Pb) in Sternen auf dem asymptotischen Riesenast (sogenannte AGB-Sterne) und kann dazu beitragen, die Entstehungszeit der Sonne im frühen Sonnensystem zu bestimmen. Entsprechende Simulationen wurden vom Kollaborationspartner Konkoly-Observatorium in Budapest durchgeführt. Die Ergebnisse wurden in der Zeitschrift Nature veröffentlicht.

Der gebundene Beta-Zerfall ist ein exotischer Zerfallsmodus, der nur bei hochgeladenen Ionen auftritt und ein stabiles Atom wie 205Tl0+ in ein radioaktives Ion verwandeln kann, wenn alle Elektronen entfernt werden (wie bei 205Tl81+). Dieser einzigartige Zerfallsmodus wurde bisher nur am ESR beobachtet – dem einzigen Gerät, das derzeit in der Lage ist, Millionen vollständig ionisierter Ionen für mehrere Stunden zu speichern. 

„Die Messung von 205Tl81+ wurde in den 1980er Jahren vorgeschlagen, aber es hat Jahrzehnte der Beschleunigerentwicklung und die harte Arbeit vieler Kolleg*innen benötigt, um sie zum Erfolg zu führen“, sagt Professor Yury Litvinov von GSI/FAIR, Sprecher des Experiments. „Der 205Tl-Strahl musste am Fragmentseparator (FRS) von GSI/FAIR in einer Kernreaktion mithilfe vieler Injektionen in den ESR hergestellt werden, um eine ausreichende Zahl an gespeicherten Ionen zu erreichen. Das FRS-Team hat eine bahnbrechende neue Vorgehensweise entwickelt, um die erforderliche Strahlintensität für ein erfolgreiches Experiment zu erzielen.“ 

Das Experiment wurde im Jahr 2020 während der ersten Wochen der COVID-19-Einschränkungen durchgeführt. „COVID hat uns definitiv einen Strich durch die Rechnung gemacht, aber das Engagement des lokalen Teams hat den Tag gerettet“, sagt Guy Leckenby, Doktorand am TRIUMF und Erstautor der Veröffentlichung. „Wir haben die Analyse über drei Jahre hinweg perfektioniert, was sich gelohnt hat. Die gemessene Halbwertszeit von 291(+33)(-27) Tagen ist doppelt so lang wie die theoretisch geschätzte. Das zeigt die Wichtigkeit einer experimentellen Bestimmung.“

“Da wir die Halbwertszeit kennen, können wir nun die Umwandlungsraten von 205Tl in 205Pb und zurück in verschiedenen Plasmaumgebungen in Sternen genau berechnen. Diese Werte sind seit den 1980er Jahren nicht mehr aktualisiert worden”, sagt Dr. Riccardo Mancino, der die Raten im Rahmen seiner Tätigkeit als Postdoc in der theoretischen Physik bei GSI/FAIR berechnet hat. „Mit modernen Rechnern und den neuen experimentellen Ergebnissen konnten wir deutlich verbesserte Raten für die AGB-Modelle liefern.“

Der asymptotische Riesenast (engl. asymptotic giant branch oder kurz AGB) bezieht sich auf Sterne mit der 0,5- bis achtfachen Masse unserer Sonne am Ende ihres Lebenszyklus. Dort entstehen einige der Elemente, die schwerer als Eisen sind, in einem Prozess namens langsamer Neutroneneinfang. Forschende des Konkoly-Observatoriums in Budapest (Ungarn), des INAF Osservatorio d’Abruzzo (Italien) und der Universität Hull (Vereinigtes Königreich) haben die neuen stellaren 205Tl/205Pb -Zerfallsraten in ihre modernen astrophysikalischen AGB-Modelle integriert.

„Auch wenn die verschiedenen Modelle leicht abweichende Ergebnisse liefern, versichert das Vertrauen in die neuen Zerfallsraten, dass AGB-Sterne das 205Pb produzierten, das einst in die Gaswolke gelangte, aus der unsere Sonne entstand“, erklärt Dr. Maria Lugaro, Wissenschaftlerin am Konkoly-Observatorium. „Angesichts der Unsicherheiten in Bezug auf die Menge an ‚ausgestorbenem‘ 205Pb, die wir derzeit in Meteoriten finden, scheint unser neues 205Pb -Ergebnis ein Zeitintervall für den Kollaps der präsolaren Gaswolke anzugeben, das mit anderen radioaktiven Spezies übereinstimmt, die durch den langsamen Neutroneneinfang entstehen. Kurz gesagt, wir sammeln Nachweise dafür, wie lange die Bildung unserer Sonne vor über 4,5 Milliarden Jahren gedauert hat.“ 

Die gemessene Halbwertszeit des gebundenen Beta-Zerfalls ist für die Analyse der Akkumulation von 205Pb im interstellaren Medium unerlässlich. Um sie vollständig zu verstehen, sind allerdings weitere Forschungsarbeiten unter Berücksichtigung der gesamten Geschichte der Galaxie erforderlich. Zusätzlich zu den geplanten fortgeschrittenen Simulationen der chemischen Entwicklung der Galaxie wurde eine weitere Messung der Neutroneneinfangrate von 205Pb mit Hilfe der Surrogatreaktionsmethode am ESR vorgeschlagen. Zahlreiche weitere hochwirksame Experimente sind für die neuen Schwerionenspeicherringe der künftigen Beschleunigeranlage FAIR vorgesehen, die derzeit bei GSI gebaut wird.

Die GSI-Gruppe von Yuri Litvinov arbeitet seit vielen Jahren mit dem MPI für Kernphysik zusammen, wo er Postdoc in der Abteilung von Klaus Blaum war. 2017 erhielt er eine außerplanmäßige Professur an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg.

Die Arbeit ist den verstorbenen Kollegen Fritz Bosch, Hans Geissel, Paul Kienle und Fritz Nolden gewidmet, die diese Forschung über viele Jahre unterstützt haben.


Originalpublikation:

High-temperature 205Tl decay clarifies 205Pb dating in early Solar System
Guy Leckenby, Ragandeep Singh Sidhu, Rui Jiu Chen, Riccardo Mancino, Balázs Szányi, Mei Bai, Umberto Battino, Klaus Blaum, Carsten Brandau, Sergio Cristallo, Timo Dickel, Iris Dillmann, Dmytro Dmytriiev, Thomas Faestermann, Oliver Forstner, Bernhard Franczak, Hans Geisse, Roman Gernhäuser, Jan Glorius, Chris Griffin, Alexandre Gumberidze, Emma Haettner, Pierre-Michel Hillenbrand, Amanda Karakas, Tejpreet Kaur, Wolfram Korten, Christophor Kozhuharov, Natalia Kuzminchuk, Karlheinz Langanke, Sergey Litvinov, Yuri A. Litvinov, Maria Lugaro, Gabriel Martínez Pinedo, Esther Menz, Bradley Meyer, Tino Morgenroth, Thomas Neff, Chiara Nociforo, Nikolaos Petridis, Marco Pignatari, Ulrich Popp, Sivaji Purushothaman, René Reifarth, Shahab Sanjari, Christoph Scheidenberger, Uwe Spillmann, Markus Steck, Thomas Stöhlker, Yoshiki K. Tanaka, Martino Trassinelli, Sergiy Trotsenko, László Varga, Diego Vescovi, Meng Wang, Helmut Weick, Andrés Yagüe Lopéz, Takayuki Yamaguchi, Yuhu Zhang and Jianwei Zhao
Nature (13.11.2024). DOI: 10.1038/s41586-024-08130-4


Weblinks:

Gruppe ‚ASTRUm – Astrophysics with Stored Highy Charged Radionuclides‘ (GSI)

Gruppe ‚Exotic Decay Spectroscopy‘ (TRIUMF)

Abteilung ‚Gespeicherte und gekühlte Ionen‘ am MPIK


Quelle

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