Zerfall von nackten Thallium-205-Ionen offenbart die Geschichte der Sonne über Millionen von Jahren
/ via Max-Planck-Institut für Kernphysik Heidelberg /
Ein internationales Forschungsteam hat erstmals die Halbwertszeit des gebundenen Betazerfalls von 205Tl81+-Ionen am Speicherring ESR der GSI gemessen.
- Erstmalige Messung der Halbwertszeit des gebundenen Betazerfalls in 205Tl81+-Ionen.
- Einfangquerschnitt von Sonnenneutrinos für 205Tl auf der Grundlage dieser Messung berechnet.
- Grundlegend neue Kernphysik-Daten für das geochemische Sonnenneutrinoexperiment LOREX.
Die Sonne, der lebenserhaltende Antrieb der Erde, erzeugt Energie durch Kernfusion und setzt dabei einen kontinuierlichen Strom von Neutrinos frei – Teilchen, die als Boten ihrer inneren Dynamik dienen. Obwohl moderne Neutrinodetektoren das gegenwärtige Verhalten der Sonne enthüllen, bleiben bedeutende Fragen über ihre Stabilität über Millionen von Jahren bestehen – ein Zeitraum, der die menschliche Evolution und bedeutende Klimaveränderungen umfasst. Das LORandite EXperiment (LOREX) stellt die letzte Bollwerk geochemischer Neutrinoprojekte dar, um diese Unsicherheiten zu klären. Dieser Niederenergie-Sonnenneutrinodetektor mit einer rekordverdächtig niedrigen Einfangschwelle von nur 50,6 keV zielt darauf ab, den solaren Neutrinostrom im Durchschnitt über einen bemerkenswerten Zeitraum von 4 Millionen Jahren zu messen, was dem geologischen Alter des Lorandit-Erzes entspricht.
Die in unserer Sonne erzeugten Neutrinos wechselwirken mit Thallium-Atomen, die im Mineral Lorandit (TlAsS2) vorkommen, und wandeln sie in Blei-Atome um. Das Blei-Isotop 205Pb ist aufgrund seiner langen Halbwertszeit von 17 Millionen Jahren besonders interessant, da es über den Zeitraum von 4 Millionen Jahren im Lorandit-Erz im Wesentlichen stabil ist. Da es derzeit nicht möglich ist, den Neutrino-Wirkungsquerschnitt an 205Tl direkt zu messen, haben sich die Forscher am GSI Helmholtzzentrum für Schwerionenforschung in Darmstadt eine clevere Methode ausgedacht, um die relevanten kernphysikalischen Zutaten zu messen. Dazu nutzten sie die Tatsache, dass vollständig ionisiertes 205Tl81+ spontan durch gebundenen Betazerfall zu 205Tl81+ zerfällt und so die für die Bestimmung des Neutrinoquerschnitts benötigten Informationen liefert.
Die experimentelle Messung der Halbwertszeit des gebundenen Beta-Zerfalls in vollständig ionisierten 205Tl81+-Ionen war nur dank der einzigartigen Eigenschaftten möglich, welche der Experimentier-Speicherring ESR der GSI bietet. Da Tl-Dämpfe giftig sind, wurden 205Tl81+-Ionen durch Kernreaktionen im Fragmentseparator erzeugt. Diese wurden dann so lange gespeichert, bis ihr Zerfall im Speicherring beobachtet und gemessen werden konnte. „Es waren jahrzehntelange technologische Verbesserungen nötig, um einen intensiven und reinen 205Tl81+-Ionenstrahl zu erzeugen und seinen Zerfall mit hoher Präzision zu messen“, sagt Professor Yuri A. Litvinov, Sprecher des Experiments und leitender Forscher des ERC Consolidator Grants ASTRUm.
„Das Team hat für den Beta-Zerfall von 205Tl81+ eine Halbwertszeit von 291 (+33/-27) Tagen gemessen, ein wichtiger Wert, der es ermöglicht, den Wirkungsquerschnitt für Sonnenneutrinos zu bestimmen“, erklärt Dr. Rui-Jiu Chen, ein an dem Projekt beteiligter Postdoktorand. Sobald die Konzentration von 205Pb-Atomen in den im Rahmen des LOREX-Projekts gewonnenen Lorandit-Mineralen bestimmt ist, werden wir in der Lage sein, Einblicke in die Entwicklungsgeschichte der Sonne und ihre Verbindung zum Klima der Erde über Jahrtausende hinweg zu geben. „Dieses bahnbrechende Experiment unterstreicht die Stärke der Kernastrophysik bei der Beantwortung grundlegender Fragen über das Universum“, so Professor Gabriel Martínez-Pinedo und Dr. Thomas Neff, welche die theoretischen Arbeiten zur Übertragung der Messung auf den erforderlichen Neutrinoquerschnitt leiteten.
Dr. Ragandeep Singh Sidhu, Erstautor der Publikation, betont deren weitreichende Bedeutung: „Das Experiment zeigt, wie eine einzige, wenn auch schwierige Messung eine zentrale Rolle bei der Beantwortung wichtiger wissenschaftlicher Fragen zur Entwicklung unserer Sonne spielen kann.“
Die GSI-Gruppe um Professor Yuri A. Litvinov, zu der auch Dr. Rui-Jiu Chen und Dr. Ragandeep Singh Sidhu gehören, arbeitet seit langem mit der von Professor Klaus Blaum geleiteten Abteilung am Max-Planck-Institut für Kernphysik zusammen.
Die Publikation ist dem Gedenken an die verstorbenen Kollegen Fritz Bosch, Hans Geissel, Paul Kienle und Fritz Nolden gewidmet, deren Beiträge wesentlich zum Erfolg dieses Projekts beigetragen haben.
Originalpublikation:
Bound-state beta decay of 205Tl81+ ions and the LOREX project
R. S. Sidhu, G. Leckenby, R. J. Chen, R. Mancino, T. Neff, Yu. A. Litvinov, G. Martínez-Pinedo, G. Amthauer, M. Bai, K. Blaum, B. Boev, F. Bosch, C. Brandau, V. Cvetković, T. Dickel, I. Dillmann, D. Dmytriiev, T. Faestermann, O. Forstner, B. Franczak, H. Geissel, R. Gernhäuser, J. Glorius, C. J. Griffin, A. Gumberidze, E. Haettner, P.-M. Hillenbrand, P. Kienle, W. Korten, Ch. Kozhuharov, N. Kuzminchuk, K. Langanke, S. Litvinov, E. Menz, T. Morgenroth, C. Nociforo, F. Nolden, M. K. Pavićević, N. Petridis, U. Popp, S. Purushothaman, R. Reifarth, M. S. Sanjari, C. Scheidenberger, U. Spillmann, M. Steck, Th. Stöhlker, Y. K. Tanaka, M. Trassinelli, S. Trotsenko, L. Varga, M. Wang, H. Weick, P. J. Woods, T. Yamaguchi, Y. Zhang, J. Zhao and K. Zuber
Physical Review Letters 133, 232701. DOI: 10.1103/PhysRevLett.133.232701
Weblinks:
Gruppe ‚ASTRUm – Astrophysics with Stored Highy Charged Radionuclides‘ (GSI)
Gruppe ‚Theoretische Kernastrophysik‘ (GSI)
Abteilung ‚Gespeicherte und gekühlte Ionen‘ am MPIK