Millionenförderung des Europäischen Forschungsrats für zwei Heidelberger Wissenschaftlerinnen
/ via universitätsklinikum heidelberg /
„Wir sind überaus stolz und freuen uns sehr mit Rohini Kuner und Hannah Monyer“, sagt Professor Michael Boutros, Dekan der Medizinischen Fakultät Heidelberg der Universität Heidelberg und Mitglied im Vorstand des Universitätsklinikum Heidelberg. „Der ERC ist eine der höchstdotierten und anerkanntesten wissenschaftlichen Auszeichnungen. Dass gleich zwei unserer Mitglieder ihn in diesem Jahr erhalten zeigt, wie herausragend der Standort Heidelberg in der Medizin und den Lebenswissenschaften ist.“
Schmerz ist nicht gleich Schmerz
Wie wir Schmerzen bewerten, hängt unter anderem von der Situation, Erfahrungen oder Ängsten ab. Diese „Gemengelage“ spiegelt sich in einer nahezu unübersichtlichen Verknüpfung der betreffenden Nervenbahnen im Gehirn. Wie sich die zellulären Netzwerke der Schmerzverarbeitung von denen anderer sensorischer Wahrnehmungen und kognitiver Funktionen unterscheiden, von diesen beeinflusst werden und vor allem: was sich bei chronischen Schmerzen verändert und wie es rückgängig gemacht werden kann, möchte Professorin Rohini Kuner, Geschäftsführende Direktorin des Pharmakologischen Instituts an der Medizinischen Fakultät Heidelberg der Universität Heidelberg, in den kommenden fünf Jahren mit ihrem Team erforschen.
„Trotz wichtiger Erkenntnisse der letzten Jahre ist es nach wie vor ein ungelöstes Rätsel, unter welchen Bedingungen Schmerzen chronisch werden. Es fehlen noch zu viele Puzzleteile, um das Gesamtbild zu verstehen“, erläutert Professorin Kuner, die erst letztes Jahr mit dem Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft ausgezeichnet wurde. In dem nun geförderten Projekt PAIN ENSEMBLES will sie über die schmerzverarbeitenden Netzwerke in der Großhirnrinde hinausschauen und herausfinden, wie Sinneswahrnehmungen, Empfindungen und Erfahrungen diese beeinflussen und so eventuell einen Beitrag leisten, dass Schmerz sich verstetigt. „Wir wissen noch unzureichend, wie sich Schmerzen auf der zellulären Ebene von anderen sensorischen Wahrnehmungen und Gefühlen unterscheiden. Gleichzeitig verstehen wir bisher kaum, wie psychologische, soziale und umweltbedingte Einflüsse die Netzwerke und Mechanismen der Schmerzverarbeitung dauerhaft verändern“, so die Pharmakologin.
Erst verstehen, dann umkehren
Sie geht davon aus, dass bestimmte Nervenzell-Netzwerke der Großhirnrinde, die strukturell und funktionell miteinander verknüpft sind, dazu dienen, Schmerzen einzuordnen und zu bewerten.
Das könnte je nach Kontext und aktueller Verfassung des Lebewesens flexible Anpassungsmechanismen ermöglichen und auf diese Weise auch frühere Schmerzerfahrungen, Angstgedächtnis und Erwartungen einfließen lassen. Ziel ist es, diejenigen Zellverbünde zu identifizieren, die Schmerzen von anderen Wahrnehmungen und Einflüssen abgrenzen, und herauszufinden, wie diese sich zusammensetzen und untereinander vernetzt sind. „Vor allem wollen wir sehen, wie sich diese Zellensembles verändern, wenn aus akutem ein chronischer Schmerz wird, und ob Erwartungs- und Angstgedächtnis die Chronifizierung fördern“, sagt Professorin Kuner. Auf diesen Ergebnissen aufbauend wird das Team prüfen, ob sich die veränderten Nervenzell-Verschaltungen durch nicht-invasive Neurostimulation und Verhaltensansätze umkehren lassen und sich damit chronischer Schmerz lindern lässt. Hierfür kommen modernste mikroskopische Techniken, wie unter anderem die Multiphotonen-Bildgebung an lebendem Nervengewebe, elektrophysiologische Aktivitätsmessung neuronaler Netzwerke, genetische Einzelzell-Analysen und detaillierte Verhaltensanalysen an Mäusen zum Einsatz.
Professorin Rohini Kuner kann auf langjährig erfolgreiche Forschungsleistungen zurückblicken: Sie wurde 2011 schon einmal mit einem ERC Advanced Grant ausgezeichnet und ist Sprecherin des von Heidelberg aus koordinierten Sonderforschungsbereichs „Von der Nozizeption zum chronischen Schmerz: Struktur-Funktions-Merkmale neuraler Bahnen und deren Reorganisation“ (SFB 1158), erst vor wenigen Wochen erhielt sie den Leibniz-Preis der DFG. Als Forschungsdekanin unterstützt sie zudem die Forschungs- und Nachwuchsfördermaßnahmen der Medizinischen Fakultät Heidelberg.
Schrittmacherzellen im Gehirn steuern Gedächtnis
Der Hippocampus gilt als Bereich des Großhirns, in dem neue Gedächtnisinhalte entstehen. Gesteuert wird die Aktivität des Hippocampus durch eine kleine Hirnregion, die als Septum bezeichnet wird. Bestimmte hemmende Neuronen des Septums gelten als „Schrittmacherzellen“: sie erstrecken sich bis in die Strukturen des Hippocampus, wo sie die Aktivität neuronaler Ensembles synchronisieren und kognitive Leistung ermöglichen. Professorin Hannah Monyer hat Anhaltspunkte dafür, dass die Septum-Neuronen im Zusammenhang stehen mit der Entwicklung neurodegenerativer Erkrankungen. Sind diese Nervenzellen geschädigt, so sind unter anderem die räumliche Erinnerung und das episodische Gedächtnis (d.h. was, wann, wo stattfindet) beeinträchtigt. In verschiedenen Tiermodellen für neurodegenerative Erkrankungen wurde eine erhöhte Empfindlichkeit der Septum-Neuronen beobachtet. Sie gelten als sehr „störanfällig“, denn sie feuern mit hoher Taktung und sind daher außerordentlich hungrig nach Energie. Es gibt Hinweise darauf, dass Schädigung der energieproduzierenden Mitochondrien hinter dieser Störanfälligkeit steckt.
Neuer Ansatz zur Therapie neurodegenerativer Erkrankungen
In ihrem vom ERC über vier Jahre mit zwei Mio. Euro geförderten Projekt will Professorin Hannah Monyer untersuchen, wie sich ein Funktionsverlust der Septum-Neuronen auf die Gedächtnisbildung im nachgeschalteten Hippocampus auswirkt und welche zellulären Mechanismen dahinterstecken. Was macht die Septum-Neuronen so anfällig? Sind es tatsächlich mitochondriale Defekte? Damit wollen Hannah Monyer und ihr Team herausfinden, welche Rolle diese speziellen Neuronen bei der Symptomatik in den Anfangsstadien neurodegenerativer Erkrankungen spielen und damit einen möglichen neuen Ansatzpunkt für therapeutische Interventionen darstellen könnten.
Professorin Hannah Monyer leitet die sowohl im DKFZ als auch am Universitätsklinikum Heidelberg angesiedelte Kooperationsabteilung Klinische Neurobiologie in der Neurologischen Klinik. Die Neurowissenschaftlerin wurde bereits mit einer Vielzahl an Preisen ausgezeichnet, unter anderem 2004 mit dem Leibniz-Preis. 1999 erhielt sie das Bundesverdienstkreuz. Bereits 2010 hatte der ERC ihr einen Advanced Grant zuerkannt, 2020 erhielt sie den Lautenschläger-Forschungspreis.
Für Spitzenforscher, die neue Forschungsgebiete erschließen wollen
Der Europäische Forschungsrat (ERC), der 2007 von der Europäischen Union gegründet wurde, ist die wichtigste europäische Förderorganisation für exzellente Pionierforschung. Er fördert Forscherinnen und Forscher aller Nationalitäten, die Projekte in ganz Europa durchführen. Mit den hochkompetitiven ERC Advanced Grants werden etablierte Spitzenforschende mit herausragender wissenschaftlicher Leistungsbilanz in den letzten zehn Jahren unterstützt, die neue Forschungsgebiete erschließen möchten.